»Resiliente Strukturen in Deutschland, der Schweiz und der EU zählen in der Krise«

Artikel vom 27. Oktober 2021
Busse und Bahnen

Covid19 hat die ganze Welt erschüttert, unzählige Menschen in Krankheit und Tod gestürzt und Unmengen Sand ins Wirtschaftsgeschehen gestreut. Besonders betroffen war und ist noch immer der Tourismus. Der gesamte öffentliche Verkehr erlitt einschneidende Einbrüche – mit Folgen für die Zulieferindustrie. RegioTrans wollte von deren Repräsentanten in Deutschland und der Schweiz genauer wissen, wo sich die größten Probleme stellten. Hier konnte unser Korrespondent, Johannes von Arx, die Direktorin von Swissrail, Michaela Stöckli, an ihrem Sitz in Bern treffen. In Deutschland beantwortete der Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bahnindustrie VDB, Dr. Ben Möbius, die Fragen per E-Mail. Aus etlichen ähnlichen Äußerungen sticht die Gemeinsamkeit der Kritik an Protektionismus beziehungsweise Heimatschutz hervor.

Swissrail, Michaela Stöckli

Wie sieht die Bilanz der Bahnindustrie Stand Mitte 2021 aus?

»Der coronabedingte Einbruch war massiv. Ebenso die Einbußen an Einnahmen all der Verkehrsunternehmen. Die ganzen Industrie-betriebe liefen vorerst mit kleinen Dellen weiter. Doch mit einiger Verzögerung begann sich die Flaute auch auf die Zulieferindustrie auszuwirken. Und dies in einem Ausmaß, wie sie es sich zuvor niemand hätte vorstellen können. Der Einbruch traf alle unserer Unternehmen mehr oder weniger gleich, kleine wie große und das hat Spuren hinterlassen. Vereinzelt mussten Firmen schließen und es gab auch Konkurse, aber ob die jeweils auch maßgeblich eine Folge der Pandemie waren, kann ich letztlich nicht beurteilen.«

» ...wieder Licht am Ende des Tunnels.«

» …wieder Licht am Ende des Tunnels.«

Umgekehrt konnten Unternehmen finanzielle Unterstützung von der Eidgenossenschaft beantragen. Hat dies denn auch dem einen oder anderen Betrieb buchstäblich das Leben gerettet?

»Absolut. Die Beihilfen ermöglichten die Kurzarbeit. Davon haben auch namhafte Firmen profitiert. Als plötzlich keine Aufträge mehr kamen, war das schwierig. Die Kurzarbeit hat etwas ganz Entscheidendes verhindert, nämlich, dass die Unternehmen Know-how auf die Straße stellen mussten und sie denn auch gleich wieder bereit waren, als es wieder losging. Und diese Lösung hat sich mittelfristig auch als die günstigste erwiesen. Keine Firma verfügte über so viele Reserven, um diese Krise allein zu bewältigen, weil die Kurzarbeit nur in einem Bereich wirksam war. Da waren auch noch Fixkosten und der Aufwand für die Lager, die als Last blieben. Glück im Unglück war wiederum, dass die ganze Krise in eine Phase der Tiefzinse fiel. So blieben die Kapitalkosten tief«.

 

Wie wirkten sich denn die Nachschubverzögerungen bei der Anlieferung von Komponenten auf die öV-Industrie aus?

»In der ersten Phase war China plötzlich total zu. Auch Lieferungen aus anderen Ländern verzögerten sich oder blieben aus, speziell bei der Elektronik. Als ob dem nicht genug gewesen wäre, kam im April 2021 der zweite große Schlag, der ›Ever Given‹, die für Tage den Suezkanal blockierte. Das hat uns schmerzlich aufgezeigt, wie vulnerabel wir gegenüber solchen Lieferketten sind und dass es fragwürdig ist, sich blind auf Just-in-Time zu verlassen. Insofern ist es legitim, einen höheren Selbstversorgungsgrad anzustreben, indem wir versuchen, eine Kleinserie wieder selbst herzustellen, statt auf die Lieferung über die Meere zu warten, selbst wenn uns das zunächst etwas teurer zu stehen kommt. Der ICE, der TGV sowie die ETR-Pendolini wurden alle in ihren Heimatländern hergestellt. Auch in Japan und China fahren fast nur Züge eigener Produktion und das ist Heimatschutz pur. In der Schweiz dagegen halten wir uns streng an die WTO-Richtlinien. Da wünschen wir uns schon gleich lange Spieße. Unabhängig von der politischen Bühne, dafür mit Blick auf die Nach-Corona-Situation, ist es wichtig, dass die Transportunternehmen weiter investieren im Sinne eines antizyklischen Verhaltens.«

 

Und wohin geht die Reise der Bahn und ihrer Industrie in den kommenden Jahren?

»Schau auf das Bild hinter mir, das strahlt für mich eine große Symbolkraft aus. Wir alle sind durch das Tal der Tränen gegangen
und jetzt sehen wir das Licht am Ende des Tunnels. Die Kurve weist nach oben, was genau uns erwartet, kann ich noch nicht sagen. Umso glücklicher bin ich, dass jetzt wieder persönliche Gespräche möglich werden, das was uns allen lange gefehlt hat. Und so hat es mich auch gefreut, dass du hier selbst vorbeigekommen bist.«

Swissrail in Kürze

Firmennamen wie ABB, SLM, SIG und Schindler1) waren einst in aller Welt bekannt, bis auf ABB sind sie in den neunziger Jahren verschwunden beziehungsweise in anderen Unternehmen aufgegangen, namentlich in Stadlerrail. Die öV- und Bahnindustrie umfasst aber auch zahlreiche mittlere und kleine Unternehmen (KMUs), die sich im Dachverband Swissrail Industry Association organisiert haben. Mitte 2021 sind das um die 110 Mitglieder, die sich unter sechs Produkte-gruppen aufteilen. Direktorin ist seit 2008 Michaela Stöckli. Der Verband koordiniert die Ländervertretungen an den Messen wie InnoTrans, organisiert Studienreisen der schweizerischen Unternehmen rund um die Welt und vertritt die Mitgliederinteressen gegenüber Politik, Behörden und den Medien.

Verband der Bahnindustrie VDB, Dr. Ben Möbius

» In Deutschland waren wir früh unterwegs mit Soforthilfen und Rettungsschirmen.«

» In Deutschland waren wir früh unterwegs mit Soforthilfen und Rettungsschirmen.«

Wie sieht die Bilanz der Bahnindustrie Stand Mitte 2021 aus?

»Ambivalent. Das Wichtigste: Die Bahnindustrie in Deutschland konnte die Wertschöpfungsketten stabil halten. Unsere Unternehmen haben so im Geschäftsjahr 2020 mit 12,5 Milliarden Euro Umsatz sogar einen sehr guten Wert erreicht. Das Inlandgeschäft stieg um über 5 %. Der Exportumsatz um knapp 10 %. Auch unsere Beschäftigungszahlen bleiben damit stark bei über 53.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Im Blick nach vorn zählt natürlich primär der Auftragseingang. Der liegt 2020 mit 14 Milliarden Euro zwar insgesamt gut, im Heimatmarkt plus 23 %, aber: Auf dem Weltmarkt gibt es teils herben Gegenwind. Natürlich kann man hier nicht alle Unternehmen über einen Leisten spannen. Teile unserer Industrie, gerade viele Mittelständler, erlitten einen drastischen, vor allem
pandemiebedingten Einbruch von 37,5 % an Auftragseingängen im Export. Im Fahrzeugbereich gar 42 %. Das sind ernste Zahlen.
Es wird sich zeigen, in welchem Ausmaß sich dies in den kommenden Jahren in sinkende Umsätze übersetzt. Wir hoffen, die krisen-bedingten Auftragsrückgänge teilweise ausgleichen zu können. Dafür werden die nächsten Monate extrem wichtig.«

 

Traf es die Branche mehr oder weniger gleichförmig oder gab es große Verlierer, vielleicht auch Gewinner?

»Zunächst einmal hat die Pandemie die Bahnindustrie vor enorme Herausforderungen gestellt. Es ging darum, die Lieferketten und damit die Funktionsfähigkeit der Schiene aufrecht zu erhalten. Produktion, Wartung, Baustellen – all das ist ja systemrelevant. Wir haben im VDB Krisenstäbe eingerichtet und die Kooperation auf ein neues Niveau gebracht. In der Krise feiern oft Gerüchte fröhlich Urstände. Krisenbedingten Gerüchten setzten wir maximale Transparenz entgegen. Die Lieferketten hielten und halten. Deutschland, und natürlich genauso die Schweiz, können auf die Bahnindustrie vertrauen. In der Krise konnten unsere Unternehmen auf Basis striktesten Gesundheitsschutzes liefern für das wirtschaftliche und gesellschaftliche Wohlergehen. Das trotz zeitweise weltweiter Shutdowns. Was die Beschäftigten gerade in diesen Zeiten geleistet haben, verdient wirklich den allerhöchsten Respekt. Resiliente Strukturen in Deutschland, der Schweiz und der EU zählen in der Krise. Exportaufträge sind in der Regel eng mit maßgeschneiderten technischen Lösungen und Beratungen vor Ort verknüpft. Das ist derzeit natürlich weitestgehend noch eingeschränkt und trifft gerade die bahnindustriellen KMUs mit zunehmender Härte. Manch öffentliche Investition wird weltweit krisenbedingt zurückgefahren oder zur Disposition gestellt. Erschwerend kommt hinzu, dass in der Krise leider manche Tendenzen zu nationalem Protektionismus weltweit noch wachsen. Europa muss auf offene Märkte drängen. Der VDB unterstützt seine Mitglieder kräftig durch digitale Markterschließung, intelligente Export-Platt-formen und ein virtuell animiertes Produktportfolio. Und wir sind zuversichtlich, dass mit den beschleunigten Impffortschritten bald wieder persönliche  Begegnungen möglich werden.«

 

Notleidende Unternehmen konnten Beihilfen beantragen. Hat dies demnach dem einen oder anderen Unternehmen buchstäblich das Leben gerettet?

»Wichtiger war für uns die Stabilisierung des Marktes. Selbstverständlich ist Kurzarbeit ein Instrument, um funktionsfähig und sozial abgefedert durch die Krise zu navigieren. Am besten ist aber, wenn Aufträge und Projekte im Markt weiterlaufen. In Deutschland haben wir gut zusammengearbeitet und waren wir früh unterwegs mit Soforthilfen und Rettungsschirmen für ÖPNV und SPNV. Diese Abfederung hat es Kommunen, Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen erlaubt, einen verlässlichen Betrieb zu garantieren. Gut für die Menschen, für das Klima und für die Industrie. Wir sind gut beraten, an einer Stelle sehr wachsam zu sein. Unsere Produktion heute spiegelt vor allem die vollen Auftragsbücher der Vorjahre. Wir müssen uns für Spätfolgen der Pandemie wappnen. Gewiss, nicht jedes Mitgliedsunternehmen ist gleich betroffen. Besonders dem  exportorientierten Mittelstand drohen spürbare Nachwirkungen. Dann ist eine Frage: Wo gibt es möglicherweise krisenbedingten Liquiditäts-druck? Außerdem dürfen europäische Unternehmen natürlich nicht auf der Einkaufsliste von Non-EU Staatsunternehmen aus Weltregionen landen, die sich vielleicht schneller von der Krise erholen. Wir müssen die industrielle Souveränität Europas im Blick haben.«

 

Wenn Sie nach vorne schauen, wagen Sie an eine Normalisierung in absehbarer Frist zu denken?

»Wir sind zuversichtlich, dass die Fahrgäste in die Züge zurückkehren, sobald sich der Alltag normalisiert. Dies belegen die Zuwachszahlen in jüngster Zeit. Ich glaube, drei Dinge sind jetzt entscheidend: Erstens: Ambitionierte Ziele. Der Markt folgt besten Angeboten. Nur so lässt sich die Verkehrsleistung auf der Schiene bis 2030 verdoppeln. Zweitens: Investitionen in eine neue Epoche, in die Schiene 4.0., davon bin ich überzeugt – auf resiliente Klimaindustrien setzen. Berlin und Brüssel bauen in ihren Hilfspaketen auf klimafreundliches Wachstum. Richtig so, aber Europa muss zugleich endlich ein Level Playing Field für seine Zukunftsindustrie schaffen. Denn Mobilität der Zukunft soll made in Europe sein. Investitionen verzahnen die alten Antagonisten Klima und Wachstum, verbessern global die Lebensqualität und stärken Clean Mobility made in Europe. Schließlich stärken sie die europäische Zukunftsindustrie. Drittens: Globale Offenheit. Die Bahnindustrien Deutschlands und ja auch der Schweiz markieren die Weltspitze. Deshalb gehen wir mit unseren Freunden von Swissrail schon länger auch untergehakt in Delegationen sehr erfolgreich in die Welt. Ganz klar: Die Welt braucht emissionsfreie Mobilität. Das nächste ganz große Etappenziel: Die InnoTrans 2022 in Berlin. Seien Sie herzlich eingeladen – zur weltweiten Leitmesse für Future Mobility in Berlin. «

VDB in Kürze

Der VDB vertritt die Interessen von 210 Unternehmen, den Architekten der digitalen Schiene 4.0 – von weltweit führenden Systemhäusern ebenso wie von spezialisierten mittelständischen »hidden champions«. Die Mitglieder des VDB entwickeln und fertigen Systeme und Komponenten für Schienenfahrzeuge und Infrastruktur, für die Clean Mobility der Zukunft, mit 53.300 Mitarbeiterinnen und Mit-arbeitern allein in Deutschland. Innovative Technologien »Made in Germany« sorgen für exzellente Bahnsysteme und klimaschonende Mobilität weltweit.

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