Dornröschens Traum von 1001 Schienen
Schienenfahrzeuge
Ein Pfiff. Das Industriegebiet von Singen im süddeutschen Baden-Württemberg zieht an Arthur Finkbeiner vorbei. Rielasingen. Die Grenze zur Schweiz überrollt der Zug auf freiem Feld. In Ramsen döst der Handelsvertreter schon, erwacht kurz beim hellen Dröhnen, das von der langen stählernen Brücke über den Rhein durch den Wagen dringt. Die Durchsage »Etzwilen – Fahrgäste auf die Seelinie Schaffhausen–Rorschach steigen hier um« überhört Finkbeiner, aber eine Viertelstunde später erneut ein Dröhnen, diesmal kommt es von der Brücke über die Thur. Ein Blick aufs Smartphone: 9 Uhr 23 – 19. Februar 2027 – Ihr Zug wird um 9.48 in Winterthur ankommen. Seuzach. Hier erwacht Finkbeiner aus seinem Traum.
Ein Traum – oder doch Realität? Oder gar beides? Also: Am 15. Juli 1875 hätte sich dieses Szenario durchaus so abspielen können – einmal abgesehen von Smartphone & Co. Damals wurde nämlich die Bahnlinie Singen–Etzwilen–Winterthur feierlich eröffnet. Sie bildete den nördlichsten Abschnitt der von Anbeginn an defizitären Nationalbahn. Sie führte weiter via Winterthur – und unter beabsichtigter Umfahrung von Zürich – via Lenzburg nach Zofingen (zwischen Olten und Luzern). Und im Fahrplanjahr 2027 könnte sich dasselbe wiederholen, nachdem 1969 der letzte fahrplanmäßige Personenzug die Grenze und die Rheinbrücke überquert hatte.
Der Höhepunkt tiefst unten
Und dann: 2001 gründeten engagierte Bähnler den »Verein zur Erhaltung der Bahnlinie Etzwilen–Singen (VES)«. Mit einem Grundstock an ausrangierten Fahrzeugen und ausgeliehenen Dampfloks befreundeter Organisationen kamen zahlreiche Sonderfahrten zwischen Stein am Rhein und Rielasingen (siehe Karte 1) zustande. Am 16. August 2020 konnte dank vereinter Anstrengungen gar wieder der erste Dampfzug nach Singen fahren. Dies, nachdem das durch ein Straßenkreisel im Industriequartier von Singen unterbrochene Gleisstück wieder eingesetzt worden war. Außerdem bietet der VES sehr beliebte Fahrten mit Velodraisinen an. Höhepunkt an der tiefsten Stelle der Strecke ist der Zwischenhalt auf der imposanten, 254 m messenden Brücke über den Rhein.
Und schon wieder 1969
Vielerorts keimen Ideen auf, stillgelegte Strecken aus dem Dornröschenschlaf aufzuwecken. Die jüngste davon betrifft die erwähnte, hälftig auf Schweizer Seite gelegene Strecke Singen–Etzwilen. Doch richten wir zunächst die Augen auf ein bereits realisiertes Projekt, nämlich die Bahn im nördlichen Bodenseeraum, wo im Wochenend-Freizeitverkehr unter dem Namen eines wasseraffinen Nagetiers gefahren wird (siehe Karte 2).
Eine Bahn, die gleich drei Staaten verbindet, mindestens wenn wir es auch an dieser Stelle mit den Jahreszahlen nicht so genau nehmen. Heute existieren keine Schlagbäume mehr zwischen Baden, Württemberg und Hohenzollern, die Ablach indessen fließt munter weiter und die ist das Paradies für den – Biber. Alles klar? Folgen wir also dem Flüsschen, genauer der Bahnlinie von Radolfzell am Bodensee über Stockach, Meßkirch und Krauchenwies nach Mengen im Donautal, heute ganz in Baden-Württemberg liegend. Sie entsteht zwischen 1865 und 1873. Zufall oder vielleicht eher gemeinsame Wegmarke auf der Spur des voreiligen Siegeszuges des Automobils? Auch hier wird ab 1969 der Bahnverkehr der Ablachtalbahn, so der firmierte Name der Strecke, etappenweise stillgelegt. Auf einem Abschnitt verschwinden gar die Gleise, werden für den Güterverkehr wieder aufgebaut und der sorgt dafür, dass seither durchgehend Schienen zwischen Radolfzell und Mengen liegen.
Mitreisen mit [G] – oder doch mit P?
Älteren, bahnaffinen Semestern in der Schweiz ist noch ein [G] im Kursbuch in Erinnerung. Das bedeutete »Güterzug mit Personenbeförderung ohne Gewähr«. Selbst dann, wenn so etwas heute noch existierte, einladend zum Mitreisen wäre dies mitnichten.
Wieder mal von Personenzügen träumen? Warum Traum? Es gibt namentlich in Deutschland ganz viele Menschen, denen die Bahn sehr am Herzen liegt und die unheimlich viel Energie in Pläne stecken, um verwaiste Strecken aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken, dann mit Fachkenntnis ans Werk gehen. Daselbst sind sie organisiert im Förderverein Ablachtalbahn e.V. Ohne eine verantwortliche Stelle geht es aber nicht. In dem Fall hat das die Stadt Meßkirch als Eisenbahninfrastruktur-Unternehmen übernommen. Und sie darf sich glücklich schätzen, mit Frank von Meißner einen erfahrenen Eisenbahnbetriebsleiter zur Seite zu wissen. Im süddeutschen Raum ist er bekannt als früherer HZL-Chef sowie durch den erfolgreichen Aufbau eines Pilotprojektes Bahn im ländlichen Raum, den Ringzug in den Oberläufen von Donau und Neckar. Von Meißner ist denn auch der Hauptverantwortliche für die Reaktivierung.
Zur Ertüchtigung der 38 km langen Strecke Stockach–Mengen waren einige Arbeiten vonnöten (die Strecke Radolfzell–Stockach war schon 1996 für den regulären Personenverkehr unter dem Namen Seehäsle reaktiviert worden). Das Schottern und Stopfen für die Wiederherstellung der Gleislage, die komplette Erneuerung von drei Bahnsteigen sowie Wiederinbetriebnahme von sieben Bahnübergängen besorgten professionelle Firmen. Bei der Vegetationspflege packten auch Freiwillige vom Förderverein Ablachtalbahn fleißig an.
Jetzt die Ausflügler – später die Pendler – und …
Seit 18. Juli 2021 laden an Sonn- und Feiertagen drei Biberbahn-Zugpaare Ausflügler ein, idyllische Orte entlang der Ablach zu entdecken, zu Radeln und Wandern in diesem Naturparadies. Schwimmen und chillen lässt sich im Strandbad am Steidle See mit seinem längsten, künstlich angelegten Sandstrand Oberschwabens.
Doch das ist bloß der erste Schritt. Ziel ist das Wiederherstellen eines regulären Personenverkehrs. Bis sich der Traum der Erbauer einer internationalen Verbindung München–Ulm–Mengen–Radolfzell–Schaffhausen–Basel/Zürich erfüllt, wird noch viel Wasser die Ablach hinunter und bei Mengen in die Donau fließen.
Damit zurück zum Nationalbahn-Abenteuer der Linie via Etzwilen, das bereits nach drei Jahren mit dem Konkurs endete. Geschuldet war es der Anfangseuphorie des Bahnzeitalters als Konkurrenz zur Verbindung Singen–Schaffhausen–Winterthur.
Immerhin haben wir den Gründerträumen die heute bei Pendlern und Ausflüglern beliebte direkte Linie Winterthur–Etzwilen–Stein am Rhein durchs Weinland zu verdanken und in dessen Mitte die imposante, ganz als Stahlgitterkonstruktion gebaute, 330 m lange Brücke über die Thur.
Freude auf der einen, Ablehnung auf der anderen Seite
Just vor Redaktionsschluss kam Bewegung Richtung Reaktivierung der – wie erwähnt heute nur von Dampfbahn- und Draisinefahrten genutzten –13 km langen Strecke Singen–Etzwilen. Die Behörden der deutschen Gemeinden Singen und Rielasingen stehen grundsätzlich positiv zum Vorhaben und planen eine Machbarkeitsstudie. Die Anliegergemeinden/-kantone der Schweiz zeigen dagegen wenig Interesse, halten gar dagegen. Ihr Fokus liegt speziell auf der Buslinie Singen–Stein am Rhein, welche die durchfahrenen Gemeinden mit zahlreichen Haltestellen bedient.
Diese Funktion könnte die Bahn nicht annähernd übernehmen, dennoch fürchtet man, dass diese den Bus konkurrieren könnte. Widerstand erwächst auch durch eine Bürgerinitiative in Rielasingen. Die Studie muss sich auch mit der Frage befassen, wie die nie elektrifizierte Strecke betrieben werden und ob sie sich mindestens vorerst auf eine Teilstrecke von Singen aus beschränken soll. Oder – im Gegenteil – gar auf bestehenden Anschlussstrecken weitergeführt wird, etwa wie einst nach Winterthur. Auch dieser Traum von 1001 Schienen dauert etwas länger.
Autor:
Johannes von Arx
Feier Fachjournalist