Das Leitbild »15-Minuten-Stadt«
Verkehrsplanung
Die »15-Minuten-Stadt« gehört zu den in jüngster Zeit weltweit meist diskutierten und verfolgten Leitbildern der Umgestaltung der Siedlungs- und Verkehrsstrukturen vor allem in großen Städten/Metropolen. Kritiken und sogar Verschwörungstheorien sind in erster Linie der Komplexität der Thematik geschuldet; sie legen eine explizite Umsetzung in Einklang mit dem Leitbild der »fußgängerfreundlichen Stadtgestaltung« nahe.
Autor: Dr.-Ing. Andreas Kossak.
»Weltweit verkünden Städte das Ziel, unsere Alltagsradien auf die Länge eines Spaziergangs zu reduzieren. Was bedeutet die Wiederentdeckung der Erreichbarkeit für die Zentren, die Peripherie und das Leben auf dem Land?« [1]. Die Pandemie habe die bereits seit Jahrzehnten mehr oder minder ausgeprägten Defizite der meisten Städte unübersehbar zu Tage gebracht: es bedürfe »mehr Nachbarschaft, mehr Nähe, mehr Small-Scale-Umgebungen, mehr Community und mehr Grün«. Mit der 15-Minuten-Stadt sei ein Prinzip gemeint, »das jedem Bewohner und jeder Bewohnerin das Lebenswichtige in einem erreichbaren Umkreis versprechen will«. Dabei dürfe man die »15 Minuten nicht so genau nehmen«. Und selbst um »Stadt« (also vorrangig »große Stadt«) gehe es durchaus nicht allein. »Das Ziel akzeptabler Erreichbarkeiten für essenzielle Dienstleistungen gelte genauso in der kleinen Stadt wie auf dem Land« [1].
Als Erfinder der »15-Minuten-Stadt« gilt Carlos Moreno, ein Städtebau-Professor an der Pariser Sorbonne, als Geburtsjahr des Leitbildes das Jahr 2016. Morenos Definition des Ansatzes lautet: »Wir wollen, dass man in einer Stadt nicht weit, nicht mehr als 15 Minuten von seinem Wohnort entfernt ist, sei es, um zur Arbeit zu gehen, einzukaufen, die Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen, Kultur zu genießen oder sich zu entspannen« [2]. Im Gegensatz zu Städten mit »getrennten Wohn-, Sozial- und Arbeitsvierteln plädiert er für ein Geflecht urbaner Viertel, in denen alle drei Funktionen nebeneinander bestehen«. Der daraus resultierende deutlich geringere Verkehrsbedarf würde die Umwelt, die Gesundheit und die Lebensqualität erheblich positiv beeinflussen (Abb. 1).
In der Basisdefinition geht es darum, dass alle Alltagsziele vom jeweiligen Wohnstandort in maximal 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad – also mit den so genannten »aktiven« Verkehrsformen – erreichbar ist (Abb. 2). In der praktischen Umsetzung hat sich daraus ein breites Spektrum von Auslegungen ergeben. Teilweise ist die Rede von lediglich 10 Minuten, teilweise von 20 oder gar 30 Minuten; nicht immer werden dabei auch ausschließlich die »aktiven« Verkehrsformen zugrunde gelegt, sondern auch der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) und sogar der motorisierte Individualverkehr (MIV).
Historische Leitbilder
Nicht zuletzt auch die »Europäische Stadt« hat schon viele Leitbildwechsel erlebt [3]. »Spätestens seit den 1980er-Jahren haben wir eine überraschend hohe Leitbildkontinuität: die funktional und sozial gemischte sowie dichte Stadt der kurzen Wege spiegelte bereits damals die 15-Minuten-Stadt wider – als Kritik am Leitbild der aufgelockerten und funktionsgetrennten Stadt.« Das »Vorspiel« dazu war die Anfang der 1960er-Jahre einsetzende Fundamentalkritik an der Unterordnung der Stadtstrukturen unter die Anforderungen der rasanten Automobilisierung im Sinne der »autogerechten Stadt« [4]. Die mehr oder minder ausgeprägte Verfolgung des betreffenden Leitbildes hatte in vieler Hinsicht katastrophale Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit und Lebensqualität praktisch aller Städte und Metropolregionen weltweit. Ein entscheidender Meilenstein in diesem Zusammenhang war die Veröffentlichung des Buches der amerikanischen Journalistin Jane Jacobs mit dem Titel »Tod und Leben großer amerikanischer Städte« im Jahr 1961 [5].
Laut [3] ist »das Konzept der 15-Minuten-Stadt ›neu‹ insofern, als es auf neue Herausforderungen reagiert, die dramatische Folgen für unsere Städte haben werden: u. a. die notwendige Resilienz, der Klimawandel, die Digitalisierung, der Mobilitätswandel und der demographische Wandel«. Dabei handelt es sich um ein Thema, das bemerkenswerter Weise in Deutschland bis vor Kurzem kaum konkret aufgegriffen wurde – obgleich es prädestiniert ist, im Rahmen der viel beschworenen »Verkehrswende«, der Verbesserung der Umweltverträglichkeit sowie der Nachhaltigkeit der Stadträume bzw. des Stadtverkehrs eine bedeutende Rolle zu spielen. In diesen Zusammenhang gehört ebenfalls das Leitbild der »Nahverkehrsorientierten Siedlungsentwicklung« [6] und die Bildung von nahverkehrszentrierten multimodalen Mobilitätszentren mit lokalen/Distrikt bezogenen Dienstleistungszentren, die so genannten »Mobility Hubs« [7]; in Verbindung mit dem Ansatz der »15-Minuten-Stadt« sind letztere prädestiniert dafür, die diesbezüglich ausgerichteten Einzeldistrikte miteinander zu verknüpfen.
Kritiken
Wie wegen der hohen Komplexität des Themas nicht anders zu erwarten, gibt es vielfältige Kritiken hinsichtlich des Ansatzes und seiner Umsetzbarkeit, hier einige Beispiele:
- Die Umsetzung des Ansatzes könnte/würde »die bestehenden städtischen Ungleichheiten zwischen den Bezirken noch verschärfen« [2].
- »Wenn alle Menschen das Fahrrad, den ÖPNV und Car-Sharing nutzen würden, kann man sich leicht eine ›15-Minuten-Stadt‹ erträumen, das entspricht aber noch nicht der Realität« [8].
- Das Konzept ist insgesamt nicht ausgereift. »Eine Mobilitätswende im Stadtteil kann nicht losgelöst von der Region gedacht werden« [8].
- »Durch die Schaffung der Stadt der Viertelstunde baut die Stadt neue Mauern und versinkt in Egoismus« [9].
In jüngster Zeit haben sich in dem betreffenden Zusammenhang sogar Verschwörungstheorien Bahn gebrochen mit der Tendenz, den Ansatz fundamental zu diskreditieren [10]. Dabei ist sachliche Kritik grundsätzlich durchaus positiv zu sehen. Das gilt allerdings in erster Linie in Hinblick auf den Tatbestand, dass eine komplette bzw. umfassende Umsetzung in der Regel nicht erreichbar ist. Das ist jedoch ein fundamentaler »Wesenszug« aller Leitbilder mit einer auch nur annähernd vergleichbar komplexen Materie und stellt deren Sinnfälligkeit durchaus nicht in Frage, sondern ist eher als Memento zu interpretieren, jeden konkreten Fall unter Berücksichtigung der spezifischen Rahmenbedingungen und Grenzen zu behandeln.
Leitbild »Fußgängerfreundlichkeit«
Zentrale Komponente der »15-Minuten-Stadt« hinsichtlich der Erreichbarkeit aller wesentlichen Alltagsziele ist die »Fußgängerfreundlichkeit«. Im englischsprachigen Raum lauten die diesbezüglichen Begriffe »Walkability«, »Walkable Urbanism«, »Walkable Cities« und »Foot Traffic Ahead«. Dabei handelt es sich explizit um zur »15-Minuten-Stadt« komplementäre Leitbilder der Siedlungs- und Verkehrsplanung. Der Begriff »Walkability« gilt als Erfindung in den 1960er-Jahren »aufgrund der Revolution von Jane Jacobs in der Stadtforschung ([5]). In den letzten Jahren ist die Begehbarkeit/Fußgängerfreundlichkeit wegen ihrer gesundheitlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Vorteile immer beliebter« geworden und werde heute »als wesentliches Konzept nachhaltiger Stadtgestaltung« eingeordnet [11]. Ausdrücklich unterstützt werden dabei die Fokussierung auf »Mischnutzungen« sowie die »Harmonisierung mit ÖPNV-, Fahrrad- und Mikromobilitäts-Infrastruktur« [12]. Hinsichtlich der Gestaltung der Straßenräume zählt dazu insbesondere auch der Ansatz »Making Spaces to Places« (Räume zu Plätzen machen) [13].
Fazit
Das Leitbild der »15-Minuten-Stadt« ist eine logische und sinnvolle Komponente der Fortführung der Abwendung vom Leitbild der »autogerechten Stadt« hin zur »menschengerechten« und »umweltverträglichen« Stadt. Der Ansatz der »15-Minuten-Stadt« ist dabei in erster Linie als Orientierungsrahmen für eine schrittweise systematische Weiterentwicklung und Umwandlung unter den jeweiligen Rahmenbedingungen der meist über viele Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte gewachsenen städtischen Strukturen zu verstehen. Die extrem hohe Komplexität der Thematik sowie die Zeiträume, die erforderlich sind, strukturelle Veränderungen in dem betreffenden Sinne zu bewirken, impliziert, dass bei der Realisierung in der Regel nicht die »Idealform« des Leitbildes erreichbar ist. Vielmehr muss/sollte dieses im Sinne des Wortes als Leitbild für eine Annäherung an die unter den jeweiligen spezifischen Bedingungen adäquate Ausprägung gehandhabt werden. Eine Kernkomponente sollte dabei in der Regel das komplementäre Leitbild der »fußgängerfreundlichen Stadtgestaltung« sein.
Quellen:
[1] Stadt Bauwelt: Die 15-Minuten-Stadt; Ausgabe Nr. 231 – 19.2021, 17.09.2021
[2] Chúláin, A. und Daviashyan, N.: Wie sieht das Leben aus in einer 15-Minuten-Stadt; euronews.com, 17.09.2021
[3] Kurth, D.: In 15 Minuten zur Europäischen Stadt? Stadt Bauwelt, 17.09. 2021
[4] Reichow, B.: Die autogerechte Stadt; Otto Maier Verlag, Ravensburg 1959
[5] Jacobs, J.: The Death and Life of American Cities; Verlag Random House, 1961
[6] Kossak, A.: Nahverkehrsorientierte Siedlungsentwicklung; Mobility Impacts 1/ 2021
[7] Kossak, A.: Mobility-Hubs: Mehr als ›nur‹ Verkehrsknoten; Der Nahverkehr 12/ 2020
[8] Illner, M.: Utopie oder Bild der Zukunft? Die 15-Minuten-Stadt; home.1und1.de, 10.02. 2022
[9] Beller, S.: Die 15-Minuten-Stadt; greenpeace-magazin, 21.10.2020
[10] Heigl, H., Miller, J.: »15-Minuten-Städte«: Von der Vision zur Verschwörungstheorie; BR24, 03.03.2023
[11] Walkability: Wikipedia; Stand Juni 2023
[12] Rodriguez, A.: Ranking Walkable Urbanism in America’s Largest Metros 2023; Foot Traffic Ahead, Mai 2023
[13] Kossak, A.: Making Spaces to Places; Mobility Impacts 2 / 2021