Franz Stainhauser: »Eine Sekunde zwischen Leben und Tod«

Artikel vom 19. Oktober 2023
Schienenfahrzeuge

In unserem Hauptartikel erfahren wir hautnah, wie in den Bahnen sonderbare Begegnungen, ja Freundschaften, zustande kommen können. Ein dramatisches Ereignis im TEE Bavaria München–Zürich vor 52 Jahren verschweißt einen wahren Diener und seine Helfer zur lebenslangen Freundschaft.

Auch mit 87 ist Franz Stainhauser noch immer mit seiner Bahn verbunden wie hier im Bahnholf Olten (Bild: Johannes von Arx).

Auch mit 87 ist Franz Stainhauser noch immer mit seiner Bahn verbunden wie hier im Bahnholf Olten (Bild: Johannes von Arx).

Auf zahlreichen Medienfahrten im Panoramawagen der SBB kredenzte Speisewagen-Oberkellner Franz Stainhauser nach seiner Pension formvollendet den Apérowein, bediente die Gäste in Frack und Zylinder nach alter Schule, erfüllte diskret Wünsche der Gäste.

Auch im Pensionsalter bleibt Franz Stainhauser der leidenschaftliche Kellner, wie hier an einem privaten Geburtstagsanlass. Mathias unterhält auf seiner Geige die Gäste (Bild: Johannes von Arx).

Auch im Pensionsalter bleibt Franz Stainhauser der leidenschaftliche Kellner, wie hier an einem privaten Geburtstagsanlass. Mathias unterhält auf seiner Geige die Gäste (Bild: Johannes von Arx).

Bei einem solchen Anlass schlich der Schreibende ins Dienstabteil, fragte den Herrn scheu, ob er auch für sich selbst ein Glas einschenken möge, ich würde mich freuen, mit ihm anzustoßen. »Ich bin der Franz«, »und ich der Johannes«. In der Folge durfte ich Franz für geschäftliche wie private Anlässe engagieren. Natürlich immer auch in Zügen, wo er in einer ganz gewöhnlichen S-Bahn zur Überraschung aller mit weißen Handschuhen einen Apéro servierte. Einmal bereicherte gar ein Folklore-Geiger live so einen Geburtstagsanlass.

Engagiert, zuvorkommend, erfahren und sprachengewandt avancierte er zum Oberkellner im Transeuropa-Express TEE, dem Orient-Express sowie in Extrazügen. Dass der mittlerweile 87-Jährige noch unter den Lebenden weilt, hat er einem glücklichen Zufall zu verdanken, währenddessen beim Eisenbahnunglück viele andere Fahrgäste und das meiste Personal im Speisewagen des entgleisten Zugs ums Leben kamen, 28, oder schwer verletzt wurden. Ursache war der Herzinfarkt des Lokführers. Zu allem Unglück fuhr wenig später noch ein Schienenbus auf die Trümmer des TEE auf, wobei neun Kinder starben.

Erinnerungen ein halbes Jahrhundert später

Ende Juni 2023 im traditionsreichen Bahnhofbüffet Olten, das wie eine Insel zwischen den Gleisen 4 und 7 liegt, also nur durch die beiden Unterführungen zu Fuß erreichbar ist: perfekter Ausgangspunkt für Trainspotter. Franz Stainhauser, er wie der Journalist sind Oltner, blickt, gut dokumentiert mit unmittelbar nach der Katastrophe erschienenen Zeitungsberichten, zurück.

Es ist der 9. Februar 1971, als der »Bavaria 56« um 18.44 Uhr pünktlich den – längst stillgelegten – bayrischen Lokalbahnhof Airtrang passiert. Im Speisewagen ist die Stimmung beim Abendessen aufgeräumt. Doch der damals 34-Jährige realisiert, dass der TEE kurz vor der nächsten Kurve schon längst hätte sein Tempo drosseln müssen. »Glücklicherweise war ich genau in dem Augenblick im Office und erinnerte mich an den Rat eines Kollegen.« Der hatte ihm einst eingetrichtert: »Der sicherste Ort bei nahendem Unheil ist das Office des Speisewagens, weil hier der Boden über den Drehgestellen verstärkt ist. Und du musst dich sofort auf den Boden legen.« Wäre Franz Stainhauser ein paar Sekunden vorher oder nachher am Bedienen gewesen, »dann wäre ich sicherlich nicht ohne schwere Verletzungen davongekommen, denn ein Kollege und Speisewagengäste wurden durch die zerbrochenen Fenster hinausgeschleudert, unter dem umgestürzten Wagen erdrückt und getötet.«

Direkt neben ihm steht Petro am Spültisch. Stainhauser packt seinen Kollegen unsanft, wirft ihn zu Boden und legt sich über ihn. Die Blitzaktion bewahrt diesen gänzlich vor Verletzungen. »Ich selbst wurde mit Dosen aus dem aufgesprungenen Kühlschrank übersät, aber unter diesen dramatischen Umständen war ein fast abgetrennter Finger schon fast das kleinste Übel.«

Trümmer, erste Hilfe – und dann eine Freundschaft

Nach und nach können sich die beiden in Dunkelheit aus der misslichen Situation befreien, kriechen aus dem in einem Graben liegenden Speisewagen in die kalte, verschneite Nacht hinaus, tasten sich zu einer Käserei vor, deren Bewohner schon andere Zugpassagiere betreuen. Hier informiert ein ebenfalls heil gebliebener Geschäftsmann mit seinem Funktelefon die SBB und ruft Stainhausers Frau an, er sei relativ heil davongekommen. Dieser kommt später ins Spital, wo der Finger angenäht wird. »Zu meiner großen Überraschung besucht mich Tage später die Frau aus der Käserei, wir sprechen über das Erlebte und tauschen die Adressen aus.« So bleibt der Kontakt zu dieser Familie erhalten. »Wir wurden zu guten Freunden, besuchen uns seither gegenseitig regelmäßig.« Auf viel dramatischere Weise kann eine Freundschaft kaum begründet werden.

Einen Franz Stainhauser auf dem Schaukelstuhl kann man sich nicht vorstellen. Er dient weiter aushilfsweise bei der SBB wie privat und lässt sein Talent zum Reparieren von Velos zum Zug kommen. Diese besorgt er sich bei Liquidationen und verkauft sie dann funktionstüchtig und in neuem Glanz gleich selbst auf einem Flohmarkt in Olten. Was für eine erfüllende Lebensgeschichte!

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