Von den Schienen bis zum Fahrdraht – und was liegt dazwischen?
Infrastruktur / Fahrwegtechnik
Solarstrom aus ungenutzten Bahnflächen: Das Schweizer Start-up Sun-Ways installiert Photovoltaikmodule zwischen Gleisen und nutzt damit Brachflächen innovativ. Die erste 100-Meter-Teststrecke bei Buttes produziert bereits Strom fürs öffentliche Netz. Weltweit könnten eine Million Kilometer Schienenflächen für die Energiewende genutzt werden – allein in der Schweiz eine Terawattstunde jährlich.

Kurz vor der Endstation der Bahnlinie Neuenburg–Buttes speisen seit Frühjahr 2025 Solarmodule zwischen den Schienen einer 100 m langen Teststrecke Strom ins Netz. Eine ältere Komposition fährt gerade darüber, links im Bild steht der Holzbau mit dem Umformer (Bilder: Sun-Ways).
Damit Züge überhaupt fahren können, brauchen sie exakt gespurte Schienen auf solidem Schotteruntergrund. Bahnen wollen unterschiedliche Bahnhöfe bedienen, es müssen also Weichen her. Die Motoren beziehen ihre Energie via Fahrdraht. Doch der Strom fließt nur in einem Kreislauf, der über die geerdeten Schienen geschlossen wird. Um nichtelektrifizierte Streckenabschnitte zu überbrücken, werden Akkumulatoren eingebaut. Die Energie mitzuschleppen in – fälschlicherweise als Batteriezüge bezeichneten – Kompositionen ist indessen ineffizient. Auch Wasserstoff ist nur ein Energieträger, aber keine Primärenergie. Könnte da etwas zwischen den Schienen liegen?
Während Joseph Scuderi an einem Frühlingstag im Jahr 2020 am Bahnhof von Renens, einer aufstrebenden Stadt westlich von Lausanne, auf einen Zug wartet, betrachtet er die Gleise vor sich, und mit dem Fachwissen, das er als Leiter für Kommunikation und Marketing bei einem großen Energieunternehmen erworben hatte, sagt er sich: »Warum nicht die brachliegenden Flächen nutzen für Solarmodule?«
Der zu diesem Zeitpunkt 55-Jährige dürfte nicht der Erste gewesen sein, der auf einen solchen Gedanken gekommen ist. Während andere angesichts der vielen »Aber« zurückschrecken, denkt der mit dem Bahnwesen noch wenig Vertraute nach, gründet 2023 das Label Sun-Ways und sucht nach Lösungen für die technischen Probleme. Etwa das wohl größte: Wie lassen sich die Module gegen den enormen Sog der darüberfahrenden Züge – auf Hochgeschwindigkeitsstrecken sind »Schotterflüge« gefürchtet – fest verankert halten, sich aber bei Schienenarbeiten rasch lösen? Und wie steht es mit der Reflexion von der gläsernen Oberfläche für das Lokpersonal? Und wenn Diebe Kabelstränge, Fahrleitungsdrähte, selbst schwere Baumaschinen klauen, kommen denn diese nicht auch auf die Idee, nach Solarmodulen zu jagen? Scuderi erfindet einen zuverlässigen und sicheren Mechanismus, entwickelt ihn bis zur Ausführungsreife und lässt das Ganze patentieren. Für die bahntechnischen Anforderungen holt er sich das Know-how bei guten Kollegen. Aber wie fand sein Start-up eine Versuchsstrecke? »Rein per Zufall: Jemand aus meinem professionellen Netzwerk traf an einem Seminar auf ein Direktionsmitglied von transN, das sofort großes Interesse an der Idee bekundete.«

Dieses Modell veranschaulicht, wie die Solarmodule zwischen den Schienen liegen. In der Mitte sind die gespreizten Stangen sichtbar, welche die Module fixieren (Bilder: Sun-Ways).
Solaranlagen werden mobil
Kurz vor Redaktionsschluss erhielt der RegioTrans erschöpfende Antworten auf diese Fragen. Dies nicht einfach durch mehr oder weniger überzeugende Argumente des Initianten, sondern anlässlich einer Besichtigung im Neuenburger Jura, keine zehn Kilometer vor der Grenze zu Frankreich Richtung Pontarlier (F). Dabei ergab sich erstmals die Gelegenheit, die fest installierten Module beim Passieren von fahrplanmäßigen Zügen zu fotografieren. Dies, nachdem einen Monat zuvor die erste Versuchsstrecke in Anwesenheit von Vertretern der SBB und Behörden, Medien sowie zahlreicher ausländischer Delegationen eingeweiht worden war. Sie konnten einer Demonstration beiwohnen, die zeigte, wie die von Scheuchzer SA entwickelte »PUMA«-Bahnmaschine die 6 Meter langen Rahmen, bestehend aus 3 Solarmodulen, schrittweise zwischen den Schienen verlegte und auch wieder entfernte.
Diese ersten 100 Meter effektiv Strom produzierende Anlage findet sich auf einem längeren geraden Abschnitt kurz vor der Endstation Buttes am gleichnamigen Bergbach auf 770 Meter Höhe. Die 35 Kilometer lange Bahnlinie Neuchâtel – Travers (wo die Linie nach Pontarlier abzweigt) – Fleurier – Buttes wird mehrheitlich im Halbstundentakt durch die Linie R21 von transN (Transports Publics Neuchâtelois SA; multimodales Verkehrsunternehmen mit Normal- Meterspurbahnen, einer Bergbahn und Autobussen) bedient. Die ländliche Umgebung untermauert unübersehbar die Aussage von Joseph Scuderi, »dass es sinnvoller ist, Solaranlagen auf den Brachen zwischen Bahnschienen auszulegen statt auf landwirtschaftlich genutzten Flächen.«
Fest eingespannt und doppelt gesichert
Aus der Nähe ist nun zu erkennen, wie die aneinandergereihten Rahmen sicher zwischen den Schienen eingespannt sind durch je zwei Querstangen, die mit einer enormen Kraft gegen die Gleisinnenseiten pressen. Vor dem Einbau sind die Stangen eingezogen, damit zunächst die Rahmen zwischen die Gleise abgesenkt werden können. Um die Verriegelung zu aktivieren, senkt »PUMA« eine Stange mit einem Spezialschlüssel am unteren Ende durch ein kleines Loch zum Spreizmechanismus ab. Durch die Drehung bewegen sich die Stangen nach außen. In der gespannten Endlage werden sie durch eingesteckte Splinte gesichert. Schließlich müssen alle metallenen Teile sauber geerdet werden, damit ein herabgefallener Fahrdraht keine Gefahr evoziert.
Damit erfüllt Sun-Ways eisenbahntechnisch alle Sicherheitsanforderungen. Die Überfahrgeschwindigkeit an diesem einspurigen Punkt beträgt maximal 90 Kilometer pro Stunde. Die Rahmen widerstehen aber Zügen mit bis zu 150 km/h. Das ist noch weit unter der Geschwindigkeit des Shinkansen in Japan, aber Sun-Ways entwickelt das System weiter für Hochgeschwindigkeitsstrecken.

Darstellung der Produktion der elektrischen Energie in Europa, aufgeschlüsselt nach Art der Erzeugung. Die Entwicklung der Sun-Way-Technik sei mit dem Testlauf in Buttes weitgehend abgeschlossen, heißt es auf der Webseite zu dieser Grafik. Falls die Zertifizierung bis 2028 erfolgt, könnten rasch mehrere hundert Kilometer Solarpanels auf Bahnstrecken allein in der Schweiz installiert werden, ebenso wie in ganz Europa. So könnte Sun-Way in Europa bereits 56 Terawattstunden pro Jahr produzieren, was einem Anteil von gut 2 Prozent von total 2600 TWh jährlich entsprechen würde (in der Grafik rechts unten grün).
Riesenpotenzial auf Gleisbrachen
Es bleibt das »Ernten« der eingefangenen Solarenergie, was nun über handelsübliche Umformer kein Problem mehr darstellt. Die insgesamt 48 Solarmodule produzieren eine Leistung von je 385 Watt, die ganze Anlage somit eine Gesamtleistung von 18 Kilowatt. Der in Buttes voraussichtlich erzeugte Solarstrom von 16.000 Kilowattstunden pro Jahr wird ins öffentliche Netz eingespeist.
Das Pilotprojekt dauert drei Jahre, um zuhanden des Bundesamtes für Verkehr (BAV) nachzuweisen, dass die Benutzung von Bahnlinien für Sun-Ways-Anlagen absolut kompatibel ist mit dem Bahnbetrieb. Dazu gehört auch der Antireflexbelag auf den – handelsüblichen – Solarmodulen, um zu verhindern, dass das Lokpersonal geblendet wird. Nach einer Phase der Homologierung ist der Weg frei für die Installation auf allen Bahnlinien.
»Aber schon vorher können wir Solarmodule auf privaten Gleisen, wie denjenigen von Verteilzentren der Post und anderen Logistikzentren, installieren, wo die Anforderungen und Vorschriften angesichts von Geschwindigkeiten von 20 km/h weniger streng sind«, freut sich der Erfinder. Und er verrät weiter, dass ausländische Unternehmen ihr Interesse an dieser einfachen und effizienten Art der Gewinnung von Sonnenenergie signalisieren, weil damit die Energiewende beschleunigt werden könne. Dabei denkt er an die um eine Million Kilometer ungenutzten Schienenflächen weltweit, wovon ein gutes Viertel in Europa. So könnten bei der Nutzung der gut 5600 km Schienenwege (Doppelspuren eingerechnet) auf offenen Strecken in der Schweiz rund eine Terawattstunde Solarstrom jährlich erzeugt werden. Dies würde 30 Prozent des Energiebedarfs des Transportsektors abdecken und jährlich rund 300.000 Tonnen CO₂ einsparen.
Letzte Etappe zur Oberleitung: »Eisenbahn-Mikrogrids«
Doch was liegt näher, als in einem nächsten Schritt den produzierten Strom direkt ins Bahnnetz einzuspeisen, statt ins entferntere öffentliche? Forschungslabore beschäftigen sich längst damit. So die Forschungsgruppe Smart-Grid des Institutes für Systemtechnik HES-SO im Kanton Wallis unter der Leitung von Prof. Julien Pouget. Im Unterschied zu einem öffentlichen Netz, dessen Spannung nur minimal variiert, kann diejenige an Fahrleitungen zwischen zwei Einspeisepunkten (Unterwerk, UW) und den entfernt davon mit Volllast fahrenden Loks bis zu 30 Prozent unter den Nennwert (SBB: 15 kV / 16,7 Hertz) fallen. Zusätzlich drücken der Widerstand des Fahrdrahtes sowie Ladestationen an Bahnhöfen die Spannung hinunter. Das heißt, dass der Fluss des Stromes von den Solarmodulen zur Fahrleitung diesen Spannungsdifferenzen Rechnung tragen muss. An einer solchen Lösung wird z. Zt. noch geforscht. Ein Ansatz dazu sind »Mikronetze«, eine Unterform von Smart-Grids (intelligente Netze).
Autor:
Johannes von Arx


